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Richard W. Gassen
Linear Skulptural – Zu den Zeichnungen von Sigrún Ólafsdóttir

Zeichnung im Raum, Volumen in der Fläche – unter dieser Devise könnte man das bisherige bildhauerische und zeichnerische Schaffen von Sigrún Ólafsdóttir zusammenfassen. Die Künstlerin arbeitet mit zwei Medien, die in ihrer Wesensart und ihrer Erscheinungsform ganz unterschiedlich zu sein scheinen: mit der Skulptur und mit der Zeichnung.Skulptur, das meint Volumen, Raum, Materie, Schwere – Zeichnung, das meint Fläche, Linearität, Leichtigkeit. Die Künstlerin setzt aber beides in ein wahlverwandschaftliches Verhältnis und schafft damit zugleich Neues: Skulptur wird und wirkt oftmals leicht und transparent, Zeichnung nicht selten schwer und kompakt. Dabei ist Sigrun Ólafsdóttirs künstlerischer Ansatz keineswegs brandneu, er steht durchaus in einer Tradition. Denn schon lange arbeiten insbesondere Bildhauer mit dem zweidimensionalen Medium der Zeichnung, das oftmals – etwa als Entwurf, als Skizze – eine dienende, die dreidimensionale Arbeit vorbereitende Funktion einnimmt. Was aber das Besondere in ihrem künstlerischen Konzept ist (und auch da steht sie eigentlich bereits auch schon wieder in einer gewissen Tradition) ist die Autonomisierung der Zeichnung, also die Loslösung vom reinen Entwurfscharakter…

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Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Wertigkeit, welche die Künstlerin selbst der Zeichnung beimisst. Denn Zeichnung ist nicht gleich Zeichnung, und in ihrer Konnotation als visuelles Medium ist sie äußerst facettenreich und geschichtsträchtig – bildet sie doch den historischen Anfang und die elementare Grundlage aller Bildnerei. Als „Urform aller Flächenkunst“ gebührt ihr nicht nur eine Sonderstellung innerhalb der bildenden Künste, sondern sie existiert auch unabhängig von deren engerem Kunstanspruch. Im Grunde lässt sie sich, neben ihrer künstlerischen Dimensionierung, als eines der elementaren Ausdrucksmittel des Menschen bezeichnen, indem sie selbst in Alltagsbelangen als Sprach- und Arbeitsinstrument dienen kann. Diese anthropologische Dimension der Zeichnung basiert auf zwei fundamentalen Umständen: Zum einen versteht sich die Zeichnung als der schnellste und unmittelbarste Weg der Formerfassung, zum anderen vermag sie auch auf einer unentwickelten Stufe ihren Zweck als Kommunikationsmittel und Orientierungshilfe erfüllen. Denken wir nur an die Kinderzeichnung im Vorschulalter in ihrer Funktion als nonverbaler Sprachform, an die Höhlenmalereien von Altamira und Lascaux, an die rituellen Zwecken dienenden Ritzzeichnungen der Naturvölker, an mittelalterliche Grundrisse (etwa der Plan des Klosters von St. Gallen) oder auch, um wieder in den Alltagsbereich zurückzukehren, an Wegeskizzen, an Ikea-Bauanleitungen oder an Karikaturen und Piktogramme.
Ein weiteres Merkmal der Zeichnung liegt in ihrer Funktion als Entwurfsskizze, ohne dabei einen eigenständigen künstlerischen Anspruch geltend machen zu wollen. So standen in der abendländischen Kunst Entwurf und Ausführung eines Kunstwerks in einem höchst unproportionalen Verhältnis zueinander. Es gab zwar in der Buch- und Wandmalerei die Vorzeichnung, doch diese verstand sich in erster Linie als eine handwerkliche Hilfe, sie war vorbereitender (und zugleich untergeordneter) Teil eines Ganzen, Zeichnung und Malerei waren nur zwei Phasen ein und desselben Vorgangs. Erst während der Renaissance begann sie sich aus diesem rein utilitaristischen Zweckverband zu lösen; in Italien verselbständigte sich die Künstlerzeichnung mit Meistern wie Gentile da Fabriano, Lorenzo Ghiberti, Raffael oder Leonardo da Vinci, im Europa nördlich der Alpen setzten Künstler wie Albrecht Dürer, Albrecht Altdorfer oder Wolf Huber neue Maßstäbe, indem sie die Landschafts- und Bildniszeichnungen aus ihren bislang dienenden Aufgaben befreite. Seit dieser Zeit kennen wir die Doppelnatur der Künstlerzeichnung: als zweckgerichteter Entwurf zum einen und als grafisch reduzierte Bildidee zum anderen.
Seit dem 20. Jahrhundert existiert darüber hinaus die autonome Bildhauerzeichnung, also eine vom Bildhauer angefertigte Zeichnung, die sich nicht als Entwurf für ein dreidimensionales Werk versteht. Wir denken etwa an Henry Moore, an Richard Serra oder auch an Alf Lechner, die jeweils ein eigenwertiges und eigenständiges zeichnerisches Werk geschaffen haben. Wobei die Grenzen hier durchaus fließend sein können, wenn sich Entwurfsgedanke und autonomer Charakter miteinander verzahnen, wenn Skizze und skulptural gedachte künstlerische Reflexion in eine Symbiose treten. Letztlich setzt auch der bewusste Willensakt des Kunstschaffenden die Maßstäbe, als was er sein Artefakt einschätzt. Und es hängt auch nicht zuletzt vom Rezipienten ab, inwieweit er diesen Vorschlag akzeptiert – denn eine eindeutige Festlegung der „autonomen Bildhauerzeichnung“ gibt es im Grunde nicht.
Genauso wenig wie es zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine klare und eindeutige Definition von „Zeichnung“ gibt. Eine Zeichnung muss nicht unbedingt kleinformatig sein, sie muss nicht auf Papier gefertigt, sie muss nicht ausschließlich mit Stift, Feder oder Kreide aufgetragen sein. Sie kann auch großformatig sein, sie kann, statt auf Papier oder Karton, auch auf Baumwolle aufgetragen sein, und sie kann, wie in den neueren Arbeiten von Sigrun Ólafsdóttir, mit Tusche und Gesso (Kreidegrund) ausgeführt, also auch durchaus malerischen Charakters sein.
Es ist wichtig, das zeichnerische Werk der Künstlerin unter diesen beiden Aspekten der Autonomisierung und der technischen Ausführung zu analysieren (wobei wir die Terminologie der Bildhauerzeichnung im folgenden beibehalten wollen). Betrachtet man die Zeichnungen im Überblick, so lassen sich drei Gruppen herauskristallisieren, die zugleich auch prototypisch den künstlerischen Werdegang markieren: die sogenannten „Körbe“ als erste Phase, dann die „Linien bzw. Berührungen“ und schließlich die „Windungen bzw. Bänder“ als die jüngste und aktuelle Werkphase. In der Gruppe der „Körbe“, zwischen 1995 und 1997 entstanden, offenbart sich ein durchaus „klassisch“ anmutendes bildhauerisches Denken. Die mit Tusche und Leinöl ausgeführten, meist im Format 40 x 50 cm gehaltenen Papierarbeiten sprechen noch unverkennbar die Sprache dreidimensionalen, plastischen Denkens – zwar nicht im Sinne einer Vorstudie, doch verstehen sie sich als in der Zweidimensionalität angelegte Artefakte, deren zentrales Thema die Darstellung der räumlichen Form, des Volumens bildet. Signifikant für diese Gruppe ist die Darstellung mittels der oftmals fein gesetzten Linie und die Bevorzugung der runden Form. Letztlich muten die Zeichnungen – auch wenn sie durchaus autonomen Charakters sind – wie auf die Fläche verlagerte Raumkörper an, wobei das Bildgeschehen in der Form eines zentralen Darstellungsgegenstands in der Regel eindeutig zu orten ist.
Dieses ändert sich dann grundlegend in der nächsten, etwa im Jahre 1997 parallel zum plastischen Schaffen einsetzenden Werkgruppe der „Linien“ bzw. der „Berührungen“. Auch bei diesen Arbeiten ist das kleine Format vorherrschend, ebenso wie für die Ausführung Tusche und Leinöl verwendet werden. Neuartig in den Zeichnungen dieser Werkphase, die die Künstlerin im übrigen bis auf den heutigen Tag fortsetzt, ist eine Reduzierung der gestalterischen Mittel. Oftmals sind es nur zwei sich annähernde oder überschneidende Linienverläufe, mitunter von kreuz- oder kreisförmigen Flächenkompartimenten hinterlegt, welche die in ihrer Binnenstruktur großzügig angeordneten Kompositionen bestimmen. Zurückhaltend wirkt auch die Farbigkeit, die sich auf delikat gesetzte Schwarz- und Gelbtöne beschränkt. Überraschend und für eine im Sinne der Bildhauerei argumentierende Künstlerin bemerkenswert ist aber auf jeden Fall die Rücknahme einer jeglichen Räumlichkeit: Die Zeichnungen sind stets flächig angelegt, die dritte Dimension wird bewusst negiert.
Zu einer Synthese der in den beiden Werkgruppen beschriebenen Auffassungen findet Sigrun Ólafsdóttir dann in ihre aktuellen Serie der „Windungen“ oder „Balken“, die zugleich für ein geändertes künstlerisches Konzept stehen. In all diesen Arbeiten wird die Trennung zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen Raum und Fläche, zwischen Skulptur und Zeichnung im Grunde obsolet – zumal die Künstlerin hier die Grenze die Grenze zwischen Malerei und Zeichnung weitestgehend überschreitet. Die auf Baumwolle (also auf Leinwand!) ausgeführten Arbeiten treten oftmals in Formaten von 100 x 200 cm oder von 180 x 180 cm in Erscheinung, und es eignet ihnen ein unverkennbarer malerischer Charakter. Zugleich kommt es zu einer Reduzierung der gestalterischen Elemente: Bildkonstituierend sind jeweils breit angelegte und durch feine Lineaturen ausdifferenzierte Bänder, die wie frei im Raum zu schweben scheinen und die einer jeglichen Schwerkraft entzogen sind. Die geschwungenen Bänder oder Balken verlaufen in Gruppen, sie überlagern und überschneiden sich, manchmal sind sie durchscheinend und luftig, manchmal pastos und kraftvoll, sie haben keine Begrenzung, sie setzen sich stets außerhalb des Bildgevierts fort. All diese Arbeiten, die ihre Analogien im plastischen Schaffen der Künstlerin haben, kreieren eine virtuelle Räumlichkeit, die sich einer gängigen Kategorisierung entzieht. Ähnlich etwa den Bildern des tschechischen Malers Zdenek Sýkora mit ihren Überlagerungen und Überschneidungen von farbigen Linienverläufen oder den aus oftmals „außerkünstlerischen“ Materialien wie Klebebändern, Wollfäden oder Gummis komponierten Artefakte des Schweizer Künstlers Beat Zoderer kommt es in den Zeichnungen Sigrun Ólafsdóttirs zu einer Tiefenräumlichkeit, die sich einer eindeutigen Lesbarkeit verweigert. Bewusst setzt die Künstlerin auf eine reduzierte, in die Monochromie verweisende Farbgebung, meist in Braun-, Grau- und Schwarztönen gehalten, ein Stilmittel, das den Bildern eine zusätzliche Delikatesse verleiht. Die Künstlerin entwirft ganz eigenwillige und letztlich nicht auslotbare Bildräume, die als eine zeitgenössische Variante – und der Vergleich sei an dieser Stelle durchaus erlaubt – der imaginären, ein irrationales System unbeschreitbarer Innenräume beschreibenden Architekturprospekte der „Carceri d’ Invenzione“ von Giovanni Battista Piranesi aus dem Jahre 1745 erscheinen mögen.
Charakteristisch für alle drei Werkgruppen ist die Gestaltung mittels der Linie und die Bevorzugung der runden Form, wobei in den jüngsten Zeichnungen auch gerade Balken in Erscheinung treten. Die Dominanz des runden bzw. geschwungenen Verlaufs liegt im konzeptuellen Ansatz der Kunst von Sigrun Ólafsdóttir begründet: Mit runden und ovalen Formen assoziiert sie die Kugel und den Kreis, die Sonne und das Ei, als Spender jeglichen Seins und Werdens und. Die Erde ist eine Kugel, im Zustand der Schwerelosigkeit bilden Flüssigkeiten eine Kreisform, die stellaren Systeme sind spiralförmig und Energie entwickelt sich immer in konzentrischen Kreisen. Rund steht für Kreation, für Wärme, für Geborgenheit, für Harmonie – und zugleich als Symbol für ständige Wiederkehr und Erneuerung.
Stets handeln die künstlerischen Systeme Sigrun Ólafsdóttirs, sowohl in der Plastik als auch in der Zeichnung, vom Gleichgewicht in der Bewegung, vom Ausbalancieren gegensätzlicher Prinzipien, von der Synthese von Statik und Dynamik. So wie nicht wenige ihrer Skulpturen aus dem Gleichgewicht geraten scheinen, aber dennoch standhaft bleiben, so geben sich auch in den Zeichnungen die einzelnen Bildelemente gegenseitigen Halt. Zweifellos eignet allen zweidimensionalen Arbeiten ein hohes Maß an Ausgewogenheit und Kontemplation, in ihnen halten sich rationales Kalkül einerseits und schöpferische Phantasie andererseits gleichermaßen die Balance. Wollte sie man nach ihrer „tieferen“ Bedeutung fragen, so täte man ihnen unrecht; denn sie sind insofern auch autonome, d.h. eigenständige Werke, als sie ohne eine hintergründige Philosophie, ohne eine Weltanschauung, einen utopischen Entwurf oder gar eine konkrete Handlungsanweisung auskommen. Sie folgen eher ihrer eigenen, von äußeren Faktoren unabhängigen inneren Systematik, sie genügen sich selbst, sie sind das Problem und die Lösung zugleich.
Von allen Zeichnungen geht eine starke ästhetische Präsenz aus, die unverkennbar in der Klarheit und der Sparsamkeit der verwendeten gestalterischen Mitteln liegt. Mit oftmals nur wenigen Kompositionselementen entstehen Bildräume, die von einer spannungsreichen Dynamik einerseits und einer beinahe meditativen Ruhe andererseits gekennzeichnet sind. Das den Arbeiten zugrundeliegende System, ihr innerer und äußerer Aufbau, gibt sich nicht immer sofort zu erkennen – doch dieses zu ergründen und somit dem künstlerischen Herstellungsprozess gedanklich zu folgen, macht, neben der rein ästhetischen Wirkung, den besonderen Reiz der Zeichnungen von Sigrun Ólafsdóttir aus.

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Cornelieke Lagerwaard
Sigrún Ólafsdóttir – die Plastiken

Bei den vorbereitenden Arbeiten zu diesem Beitrag stieß ich auf die Videokopie einer Fernsehsendung, in der Sigrún Ólafsdóttir interviewt worden ist. Im Hintergrund sah man das gerade fertig gestellte Füllhorn (Abb. S. 37), und sie sagte über sich, dass sie als Kind schon gerne gebastelt und nie damit aufgehört habe. Diese Aussage hat mich damals sehr berührt. Sie blieb in meinem Gedächtnis präsent, und ich hatte immer das Gefühl, dass in diesem Satz wohl der Schlüssel (oder einer der Schlüssel) zu den Arbeiten Sigrún Ólafsdóttirs zu finden ist. Der nachfolgende Beitrag handelt von meiner Suche nach diesem Schlüssel.
In Gesprächen mit der Künstlerin haben wir nicht nur über ihre Kunst diskutiert, sondern auch über das reale Leben und deren wechselseitige Beeinflussung. Diese Wechselwirkung hat für Sigrún Ólafsdóttirs Arbeit eine große Bedeutung. Ihr Thema ist das Verhältnis zweier sich gegenseitig bestimmender und bedingender Kräfte. Gegensätze, und zwar im weitesten Sinne: schwarz und weiß, männlich und weiblich, hart und weich, nass und trocken, hässlich und schön, Krieg und Frieden, Ferne und Nähe – oder eben »Force and Tenderness«.

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Der Moment des Gleichgewichtes zwischen diesen Gegensätzen ist die Quintessenz der Arbeit von Sigrún Ólafsdóttir. Hierbei handelt es sich nicht um ein statisches Gleichgewicht, sondern um ein Gleichgewicht in der Bewegung: um den kurzen Moment, wenn beide Gegensätze gleich stark (oder schwach) ausgeprägt sind – die Pause zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen Ebbe und Flut, zwischen Flieh- und Anziehungskraft (wenn der hochgeworfene Ball einen Augenblick lang in der Luft »verharrt«).
In der plastischen Arbeit von Sigrún Ólafsdóttir lassen sich drei unterschiedliche Werkgruppen herauskristallisieren: die »Stapelungen« der halben Kugeln bilden die Serie der »Körbe«; des weiteren die Skulpturen, die die Künstlerin als »Berührungen« bezeichnet, gehören zu der Gruppe der »linearen Plastiken«; und schließlich die »Windungen«: Schwebende, in den Raum emporsteigende oder seitwärts greifende Bänder, die sich der Schwerkraft zu entziehen scheinen.
Viele Arbeiten in öffentlichen Gebäuden gehören zu dieser letzten Gruppe, wie auch die raumbezogene Arbeit, die für die Ausstellung in der Stadtgalerie konzipiert worden ist. Allen Plastiken ist der Eindruck einer gewissen Leichtigkeit gemeinsam, der nicht nur durch den ausgeklügelten Gleichgewichtsmoment entsteht, sondern auch dadurch, dass der »leere Raum« das eigentliche Objekt durchdringt und so die Plastik mit gestaltet.
Die Stabilität der »Körbe« wird durch die quer übereinander angeordneten Ringe gewährleistet. Diese Stabilität, oder das Gleichgewicht, wird durch eine Bleikalotte verstärkt und durch diese sichtbar gemacht. Die einzelnen Speichen der »Körbe« zeichnen die Umrisse der Form im Raum – als wäre die Füllung verschwunden und nur das Skelett stehen geblieben. Die »immaterielle« Leere wird nur durch unsere Wahrnehmung zur Form. Wie »labil« eine solche Form ist, zeigt sich, wenn der Betrachter die Plastiken von verschiedenen Seiten anschaut: Die visuelle Information verschiebt sich dann auf verwirrende Weise, wir können die Struktur, den Zusammenhang der Plastik, durch das in unseren Augen entstehende Gewirr der sich überkreuzenden Linien kaum verarbeiten. Manchmal sehen wir eher zwei- als dreidimensional: die Objekte wirken wie Zeichnungen. Und wie in den Zeichnungen, gibt es viel Freiraum für figurative Assoziationen. Die von mir benutzte Bezeichnung »Körbe« ist aus einer solchen Assoziation entstanden. Für diese Plastiken sind runde und ovale Formen kennzeichnend. Sie erinnern an Boote, Behälter, ja, sogar entfernt an Helme. Allesamt Gegenstände, die eine schützende Funktion haben. Selten tragen die Arbeiten von Sigrún Ólafsdóttir einen Titel. Diese entstehen nur dann, wenn sie für die Künstlerin offensichtlich sind.
Das »pendelnde« Gleichgewicht zwischen den sich gegenseitig bestimmenden Kräften ist auch das Thema der »linearen Plastiken«. Doch hier zeichnen die Holzstreifen nicht die Umrisse der Form, sondern die Körper selbst nach. Der Gleichgewichtsmoment wird hier besonders deutlich: wie bei der Akrobatik wird er durch das Prinzip der gegenseitigen Hebelwirkung bestimmt. Außerdem ist dieser Punkt durch eine Metalleinlage in einem der beiden Holz- oder Aluminiumteile sichtbar. Die Sensualität, die haptische Verführung, ist bei den Plastiken dieser Gruppe stark ausgeprägt. Die Erkenntnis, dass sie, noch deutlicher als bei den »Körben«, »bewegbar« sind, löst bei den Betrachtern das Bedürfnis aus, diese Bewegung selbst herbei zu führen.
Die Vorarbeiten sämtlicher Plastiken sind sehr aufwändig. Zunächst entstehen Holzmodelle. Hierbei biegt Sigrún Ólafsdóttir mit Hilfe von Schablonen und Wasserdampf spezielle Holzstreifen in die gewünschte Form. Die eigentlichen Plastiken werden entweder in Aluminium »übersetzt«, oder in Holz ausgeführt. In letzterem Fall werden die gebogenen Holzstreifen zu dickeren Bahnen zusammengeleimt und zurechtgeschnitten. So sind auch die dicken, gewölbten Platten, die das große Füllhorn bilden, entstanden. Bemerkenswert ist, dass diese Arbeit von Sigrún Ólafsdóttir eine Ausnahme ist. Die Künstlerin bezeichnet sie, im Vergleich zu ihrer sonstigen Arbeit, als »männlicher« – das heißt, dass sie mit dem Füllhorn solche Eigenschaften assoziiert, die im Allgemeinen mit dem Begriff »männlich« verbunden werden: massiver, präsenter und kompromissloser. Das Füllhorn ist sehr präsent. Nur bedingt durchdringen sich Raum und Objekt gegenseitig, und das Objekt nimmt viel Platz ein. Dennoch ist auch bei dieser Plastik die Bewegung das Thema. Entfernt erinnert sie an die futuristische Skulptur Urformen von Bewegung im Raum von Umberto Boccioni (1913). Dort sind die sonst unsichtbaren Spuren der Bewegung eines im Gehen begriffenen Menschen in Bronze gegossen, wie bei einem Foto mit Langzeitbelichtung, wo der zeitliche Ablauf der Bewegung »verwischt« sichtbar wird. Das Füllhorn wurde, ähnlich wie bei den »Körben«, auf einem Gerüst aus Ringen aufgebaut, auf die die Platten festgeschraubt worden sind. Am Modell der Plastik sind diese noch vorhanden, aber bei der Fertigstellung der Arbeit konnten die Ringe entfernt werden, weil die dicken Platten die stabilisierende Funktion übernommen haben. Im untersten Bereich enthält auch das Füllhorn noch eine Bleieinlage.
Die Suche nach dem Ruhepunkt, dem Gleichgewicht, das durch die immer hin- und her pendelnde Bewegung ausgelotet wird, ist in persönliche Erfahrungen eingebettet, wobei es hier nicht um autobiografische Gegebenheiten geht, sondern eher ein allgemeines Lebensgefühl betrifft. Die Plastiken strahlen deshalb eine gewisse Selbstverständlichkeit aus: Sie sind so, sie können gar nicht anders sein! Somit sind sie Ausdruck der konsequenten und mutigen Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen unserer Existenz. Als Fazit gilt: Wenn Sigrún Ólafsdóttir »bastelt«, bringt sie Kunst hervor. Dies ist ein Schlüssel zu ihrem Werk.

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Ernest W. Uthemann
Die Bewegung des Materials, des Raumes, des Menschen, des Denkens
Zu Sigrún Ólafsdóttirs ortsbezogenen Arbeiten

»Es wäre das Ideal, Statuen zu schaffen
schon im Hinblick auf den Platz,
wo sie aufgestellt werden sollen (…).
Jedes Kunstwerk muss seinen ganz
bestimmten Platz haben und sich
einem Ganzen harmonisch einfügen.«    Aristide Maillol

1997 machte Sigrún Ólafsdóttir der Jury des Nikolaus-Cusanus-Weinkultur-Förderpreises einen Vorschlag, der, wenn er nicht eines Tages realisiert werden sollte, der Mosel und den sie flankierenden Weinbergen fehlen würde. Über eine Uferstraße, oberhalb einer Mauer, die den Hang stabilisiert, soll sich ein Viertelkreis aus glänzendem Metall wölben, aus dem ein Wasserstrahl über die Fahrbahnen in den Fluss schießt (S. 88). Stahl und Wasser gemeinsam bilden einen Bogen, der sich gedanklich zum Kreis schließen lässt, zu einem Bild des Wasserkreislaufs, der die Mosel speist, der den Wein gedeihen lässt und alles Leben ermöglicht.

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In manchen Zügen ähnelt Sigrún Ólafsdóttirs Moselbrunnen dem Monument à Bachelard, das Klaus Rinke 1986 über dem Ablaufkanal des Lac de la Forêt d’Orient bei Lusigny-sur-Barse (Champagne-Ardenne) errichtete. Unmittelbarer aber noch als in diesem, dem Philosophen und Verfasser von L’eau et les rêves gewidmeten Denkmal, mehr auch als bei den meisten Brunnen oder Wasser auf diese und jene Art integrierenden und nutzenden kinetischen Plastiken ist in Ólafsdóttirs Entwurf das Wasser skulpturales Konstituens: Es bildet die Hälfte des Bogens, und damit (materialiter) die Hälfte der Plastik. Rinkes Monument, ein 24,6 Meter hoher Bogen, nutzt das Wasser nur als Movens, das ein acht Meter langes Pendel bewegt, aufgehängt im Scheitelpunkt. Das Wasser ist hier also Hilfsmittel (wenn auch seine Kraft demonstriert wird), bei Ólafsdóttir Gestaltungsmittel. Nicht zuletzt kommt dies darin zum Ausdruck, dass nach der Vorstellung der Künstlerin der Wasserstrahl je nach Witterung elektronisch geregelt wird: Bei windigem Wetter soll das Wasser »dicht gebündelt«1 über die Fahrbahnen der Straße schießen, bei Sonne und Windstille sprühen, um das Phänomen eines Regenbogens zu erzeugen, ein optisch illusioniertes Pendant zu dem aus Stahl und Wasser gebildeten Bogen des Brunnens.
Die kinetische Dimension des Moselbrunnens erschöpft sich also nicht in schlichtem Strömen von Wasser, wie es jede Brunnenanlage auf einem Platz, in einer Fußgängerzone bietet, vielmehr verändert, »bewegt« das feuchte Element den Umraum. Einen unerwarteten zumal, denn das Projekt dient nicht urbaner Dekoration, sondern markiert einen Ort, der
von den meisten Menschen wohl zunächst als eher natürlich denn zivilisatorisch geprägt wahrgenommen wird. Aber zweifellos befindet man sich an dem von Sigrún Ólafsdóttir für die Errichtung ihrer Plastik vorgeschlagenen Platz mitten in einer Kulturlandschaft, in einer sehr alten sogar. Die Kultivierung dieser Landschaft, ihre »In-Zucht-Nahme« entzieht sich dem Bewusstsein der Vorüberfahrenden aufgrund einer Anmutung von Überzeitlichkeit: Ein von Sagen und Legenden umwobener Fluss hat ein Tal in ein uraltes, in Jahrmillionen erodiertes Gebirge gegraben, gesäumt wird er von Weinbergen und Mauern, die hundert, aber auch zweitausend Jahre alt sein könnten.
In dieses dem Ablauf von Zeit scheinbar enthobene landschaftliche Ensemble setzt Sigrún Ólafsdóttir ein Zeichen, das von Dauer und ewiger Wiederkehr spricht, doch seine Faktur offensichtlich der Gegenwart verdankt. Die Künstlerin bestätigt die Allusion der Überzeitlichkeit mit ihrem Moselbrunnen, widerspricht ihm aber in doppelter Hinsicht zugleich; zunächst eben durch die eindeutig technoide Erscheinung der Plastik, die aus Edelstahl bestehen soll. Zwar wird das Moment der Dauer einerseits durch die Form des Bogens akzentuiert, die seit je eine solche Assoziation transportiert; das scheinbar »ewig« sprudelnde Wasser unterstützt diese Anmutung. Auf der anderen Seite aber »unterbricht« und rhythmisiert Sigrún Ólafsdóttirs Moselbrunnen in gewisser Weise die Landschaft, teilt sie als Torbogen in ein Hüben und Drüben.
Damit weist Ólafsdóttirs Bogen Ähnlichkeiten mit Christos und Jeanne-Claudes Eingriffen in die Landschaft auf, vor allem mit dem Valley Curtain, den das bulgarisch-französische Künstlerpaar 1970 – 72 bei Rifle im US-Bundesstaat Colorado über eine Landstraße spannte. Sowohl der Talvorhang wie Ólafsdóttirs Moselbrunnen dramatisieren die Landschaft: jener als leuchtend orangefarbener »Theatervorhang«, der beim Durchqueren den Blick auf eine zwar nicht wirklich andere, aber einer geänderten Wahrnehmung dargebotene Szenerie freigibt, dieser als nahezu sakrale Architekturform, deren Passieren das Gefühl eines Eintretens in neue Räume beschwört.
Das im Verhältnis zur gesamten Dimension der Plastik geringe Volumen des stählernen Viertelbogens »zeichnet« – im Verein mit dem Wasserstrahl – eher eine Linie vor den Hintergrund der Landschaft, als dass es Raum verdrängen würde. Seit Künstler wie Picasso und Julio González begannen, die ehedem geradezu als ontisches Merkmal der Bildhauerkunst begriffene Masse ihrer Plastiken aufzulösen, gibt es eine Tradition der »Zeichnung im Raum«2, die nicht zuletzt dazu beigetragen hat, die kanonisierten Grenzen der Kunstgattungen zu durchbrechen. Auch Sigrún Ólafsdóttir arbeitet in dieser Tradition, bedient sich überwiegend plastischer Elemente, die von Linearität bestimmt sind, die schmal und lang gestreckt wie Fühler in den Raum ragen, oder aber wie in einem Netz ein »Luftvolumen« umfassen.
Beim Projekt Moselbrunnen kommen beide Aspekte ins Spiel. Die stählerne Hälfte des Bogens tastet wie ein Tentakel in die Luft – sollte der Wasserstrahl einmal abgestellt sein. Der »Sprüh-Effekt« verteilt das Wasser in den von dem Bogen umfangenen Raum und macht diesen damit als integralen Teil der Plastik deutlich.
Dieses Moment der Bewegung als (tatsächliche oder auch nur scheinbare) Veränderlichkeit spielt die zweite entscheidende Rolle in Sigrún Ólafsdóttirs plastischem Werk, bei ihren autonomen Arbeiten, mehr noch aber bei ihren ortsgebundenen. Zwar dynamisieren auch die »transportablen« Plastiken ihre jeweilige Umgebung, haben oft eine – zumindest allusionierte – kinetische Qualität, doch ist ihr Einfluss auf die wechselnden Standorte naturgemäß variabel und von der Künstlerin nur bis zu einem gewissen Grade vorhersehbar. Erst recht ist es ein schwieriges Geschäft, ein Werk einer strukturierten, nicht selten komplexen bestehenden Architektur an- oder einzufügen. Sigrún Ólafsdóttirs Wettbewerbsbeitrag zur Ausgestaltung des Innenhofs der Landeszentralbank in Saarbrücken (S. 87) war dem von der Jury 1996 ausgewählten und später realisierten Vorschlag von Sigurd Rompza im Grundgedanken nicht unähnlich.3 Beide Projekte gingen von einer farbig gefassten Stahlspirale aus. Während jedoch Rompzas Arbeit zwischen die Wände des Innenhofs wie eine Sprungfeder eingespannt wirkt, also sehr konkreten Kontakt zur Architektur hat, schlug Ólafsdóttir eine von den umgebenden Mauern und Glaswänden weggerückte Plastik aus zwei Strängen vor, die sich aus einer Art Knäuel in Form einer »Doppelhelix« in den Himmel winden.
War der Bezug zur Architektur beim Kontrapunkt von 1996 noch nicht wirklich zwingend, so präzisierte Sigrún Ólafsdóttir das Verhältnis von Architektur und Plastik in verschiedenen 1999 realisierten Projekten ganz entscheidend. Ohne Titel in der Sparkasse Riegelsberg (S. 86) windet sich als relativ breites Band um ein Säulenpaar, und der Betrachter kann sich der Anmutung einer Schlange nicht erwehren. Vielleicht schwingt hier sogar ein kritisches Moment mit: das verführerische Reptil »Mammon«, das zur Vertreibung des Menschen aus dem Garten Eden beitrug.
Ohne Titel (1999) in der Sparkasse Saarbrücken (S. 84/85) folgt als Doppelhelix einer Wendeltreppe und bestätigt so die vorgefundene Architektur. Ganz im Gegensatz dazu scheint sich die ebenfalls über mehrere Stockwerke von der Decke hängende Skulptur Ohne Titel (2002) im Foyer der Vertretung des Saarlandes beim Bund in Berlin (S. 83) den auf Rechtecke reduzierten Strukturen des Umraumes zu widersetzen. Ausgangspunkt war auch hier eine Spiralform, doch im Verlauf der Planung wurde diese »aufgebrochen«: Aus ruhig einwärts gewundenem Lineament wurde ein Geflecht von »Stacheln«, die aggressiv in den Raum stoßen und ihn dadurch kontrapunktieren.4
An diese Arbeit knüpft die Installation in der Stadtgalerie Saarbrücken an. (S. 90/91) Die (hier schwarz gefärbten) Bogenelemente sind, den Raumverhältnissen entsprechend, in einer im Wesentlichen horizontal gerichteten Struktur angeordnet, welche die perspektivische Flucht des ungleichmäßig trapezoiden Ausstellungsraums nutzt und pointiert. Beim Durchschreiten der Plastik erlebt der Betrachter, wie sich die kurvigen, ausragenden Formen visuell zu immer neuen Konstellationen gruppieren. Der (beinahe) einheitlich weiße Hintergrund verleiht der Installation den Charakter einer Art »interaktiver Zeichnung«, deren Erscheinung der Galeriebesucher durch Standortwechsel beinflussen kann.
Sigrún Ólafsdóttir hat sukzessive das »Repertoire« von Möglichkeiten der Bewegung in ihrem plastischen Werk erweitert, und hier kommt den ortsbezogenen Arbeiten zentrale Bedeutung zu, da die Künstlerin hierbei immer wieder vor der Aufgabe stand, ihr Thema der tatsächlichen oder virtuellen Kinetik den Bedingungen einer bestimmten Umgebung entsprechend zu variieren. Mit der Installation in der Stadtgalerie hat Ólafsdóttir die Einbeziehung der Betrachterbewegung, die beim Entwurf für den monumentalen Moselbrunnen eine wichtige Rolle spielte, zu komplexen Wahrnehmungsmöglichkeiten verfeinert, hat hier auch die Konvergenz ihrer beiden bevorzugten Medien – der Plastik und der Zeichnung – so deutlich wie nie zuvor betont. Sigrún Ólafsdóttir setzt mit ihren Arbeiten Holz, Stahl, Wasser, den Raum und den Betrachter in Bewegung, vor allem aber das Denken, das Sehen und das Denken über das Sehen.

1 Sigrún Ólafsdóttir, in: Nikolaus-Cusanus-Weinkultur-Förderpreis 1997, o.O., o.J. (1997), ohne Paginierung
2 Vgl. Ernest W. Uthemann, Volumen in der Fläche, Zeichnung im Raum, in: Ausst. Kat. Saarbrücken 1998, Sigrún Ólafsdóttir. Skulpturen und Zeichnungen, ohne Paginierung
3 Vgl. Landeszentralbank in Rheinland-Pfalz und im Saarland (Hrsg.), Kunst-Bau, Saarbrücken 2000, S. 29 – 33
4 Vgl. Jo Enzweiler (Hrsg.), Wettbewerbe Kunst im öffentlichen Raum im Saarland 4, Saarbrücken 2003, S. 60 f.

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